Nicht jeder Vorwurf stimmt
Ihre andere Weltsicht berechtigt die Europäer noch nicht, sich den USA moralisch überlegen zu fühlen, mussten sie doch einige Dinge von Amerika lernen.

Von Bruno Schoch

Es gibt gegen diesen Krieg gute Gründe, und es gibt schlechte. Zu diesen gehört das antiamerikanische Ressentiment, die USA für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu machen. Dazu zählt auch, das Regime im Irak zu verharmlosen und zu leugnen, dass sein Streben nach Massenvernichtungswaffen für Nachbarn und Weltfrieden eine Gefahr darstellt. Saddam Hussein führte nachweisbar zwei Angriffskriege, setzte Chemiewaffen gegen den Iran und gegen die eigene kurdische Minderheit ein, schoss Raketen auf das 1991 neutrale Israel und behinderte die Inspekteure systematisch, um die ihm von der Uno auferlegte Abrüstung zu vernebeln. Das darf niemand übersehen. Und ob ein Staat Massenvernichtungswaffen entwickelt oder ob es sie tatsächlich eingesetzt hat, ist der sprichwörtliche Unterschied ums Ganze.

Inzwischen sind die Würfel gefallen. Längst geht es jedoch um mehr als um den Krieg im Irak. Der wird gemäss amerikanischen Militärexperten gerade einmal zwei Wochen dauern. Man kann dem entgegenhalten, was Clausewitz «Friktionen» nannte: unvorhergesehene Ereignisse, die alle Prognosen zunichte machen.

Wiederaufbau als Herkulesaufgabe

Sicher ist, dass der auf den Krieg folgende Wiederaufbau des Irak, schon gar die Neuordnung der gesamten Region, die eigentliche Herausforderung darstellt. Und zwar keineswegs nur für die USA allein. Denn alles deutet darauf hin, dass sie weder willens noch im Stande sind, diese Herkulesaufgabe allein zu bewältigen. Umso schwerer fällt ins Gewicht, dass die Staatengemeinschaft von dem Monate währenden Gerangel in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es ist schon irritierend, wie selbstverständlich dabei plötzlich wieder krudeste Machtpolitik im Stil des 19. Jahrhunderts das politische Denken beherrscht.

Am Anfang stand fraglos Washington. Vier Monate, nachdem es erfolgreich eine weltweite Allianz gegen den Terrorismus geschmiedet hatte, brüskierte Präsident Bush mit seiner Rede zum «State of the Union» die Verbündeten. Sie wurden im Zeichen des schnellen militärischen Erfolgs gegen das Taliban-Regime beim weltweiten Kampf gegen die «Achse des Bösen» zur Quantité negligeable. Von der seit 1989 fast unbegrenzten militärischen Übermacht wie berauscht, ersetzen die neokonservativen Falken in Washington die hergebrachte Aussenpolitik durch einen neuen unilateralen Internationalismus. Weil der die Koordinaten der gesamten bisherigen internationalen Politik umkrempelt, trifft das Etikett «neokonservativ» nicht so recht, es sei denn, man denkt an eine Art konservative Revolution.

Wenn für die stärkste Macht der Welt Krieg wieder zum normalen Mittel der Politik avanciert, sind Völkerrecht und Uno-Charta beschädigt. Beide verdanken wir paradoxerweise den USA. Sie setzten die alte europäische Idee um, man könne die internationale Politik in Analogie zur innerstaatlichen Bändigung der Gewalt verrechtlichen. Zuerst mit dem Völkerbund, dann mit der Uno. Nun schickt sich die Bush-Administration an, das prinzipielle Kriegsverbot der Uno-Charta über den Haufen zu werfen. Eine Hybris der Macht mit unabsehbaren Folgen.

Die Machtstrategen in Washington verdrängen, dass sich noch so imposante militärische Stärke nicht direkt in Sicherheit übersetzt - auch das hat der 11. September blossgelegt. Und astronomische Militär- und Rüstungsausgaben ergeben per se noch keine politische Hegemonie. Die beruht nämlich darauf, dass die Schwächeren der Führungsmacht aus Überzeugung folgen. Die beste Tradition amerikanischer Aussenpolitik gründete in der Einsicht, dass dem eigenen Nutzen am besten mit einem internationalen System gedient ist, das auch im Interesse der anderen ist.

Deshalb gründete die USA Organisationen und Institutionen wie etwa Uno, Nato, Weltbank, IWF. Diese möchte niemand mehr missen, sie bilden die institutionellen Klammern des Westens - nicht zuletzt auch für eine lange Phase wirtschaftlichen Wachstums. Diese Institutionen erscheinen uns als so selbstverständlich, dass man leicht vergisst, dass sie nicht vom Himmel fielen, sondern von Staaten und Menschen gegründet wurden. Damit ist auch gesagt, dass sie zerbrechlich sind. Dass es für sie eine gemeinsame transatlantische Verantwortung gibt, drohte der neuartige kalte Krieg innerhalb des Westens um die richtige Weltordnungspolitik auf erschreckende Weise zu verdrängen.

Ob Brüskierung der Uno, ob Internationaler Strafgerichtshof oder ob Kyoto-Protokoll, von Rüstungskontrolle ganz zu schweigen - diesem neuen amerikanischen Unilateralismus widersetzen sich die Europäer mit Recht. Er droht das Völkerrecht zu demontieren. Gerade die Europäer, die von den USA spät genug internationales Recht und Multilateralismus lernen mussten, haben das grösste Interesse daran, die Uno nicht zu beschädigen, sondern zu stärken.

Gleichwohl sollten wir es uns mit Vorwürfen nicht zu leicht machen. Die USA denken nicht vom europäischen Staatensystem her. Sie haben sich stets als Alternative verstanden und sie tun sich schwer damit, dass in der Uno alle Staaten vertreten sind, auch die Diktaturen. Nicht allein die Arroganz der Macht erschwert den USA die Einbindung in die Uno, sondern auch ihre demokratische Kultur.

Die Europäer verstehen ihre Integration auch als Friedensprojekt, d. h. als Überwindung der alten Machtpolitik, die Europa zerstört hat. Doch berechtigt sie das nicht, daraus eine Art moralische Überlegenheit abzuleiten.

Zweifellos ist eine Welt, die durch zwischenstaatliche Verträge gesichert ist, erstrebenswerter als hergebrachte Machtpolitik. Doch war es Europa, das in zwei Weltkriegen die USA dazu nötigte, die Welt wieder ins Lot zu bringen. Hinzu kommt, dass das Völkerrecht den Mangel hat, dass eine Rechtsverletzung nicht eingeklagt werden kann, solange die Sanktionsinstanz fehlt. Das Gewaltmonopol der Uno ist nicht materieller, sondern legitimatorischer Art. Materiell liegt die Gewalt bei den Staaten. So richtig deshalb das Ziel ist, die Macht des Rechts an die Stelle des Rechts der Macht setzen zu wollen - letzten Endes beruht die Geltung des Rechts auf Gewalt. Werden Verstösse nicht geahndet, taugt der beste Multilateralismus nichts. Haben die Europäer die bittere Lektion Bosnien schon vergessen?

Europa bleibt auf die USA angewiesen

Weil internationales Recht notfalls auch manu militari durchgesetzt werden muss, brauchen die Europäer auch künftig die USA. Im Blick auf den Nahostkonflikt haben - oder vielmehr hätten - allein die USA das Potenzial, mässigend auf die Eskalation der Gewalt einzuwirken. Und wie wollte der europäische Multilateralismus verhindern, dass es zwischen Pakistan und Indien zu einem nuklearen Schlagabtausch kommt oder Nordkorea seine Atomwaffen einsetzt?

Europa bleibt nolens volens auf die USA angewiesen. Deshalb haben die Europäer alles erdenkliche Interesse daran, dass sich die transatlantischen Divergenzen nicht zum unheilbaren Riss vertiefen. Statt kaltem machtpolitischem Krieg innerhalb des Westens brauchen wir - da ihn nun keine sowjetische Gefahr mehr von aussen zusammenschweisst - nicht weniger als seine Neukonstitution.

------------------------------------------------------------------------
Zur Person

Bruno Schoch, in Herisau aufgewachsen, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung mit Schwerpunkt Entwicklung und Demokratisierung; er fungiert ausserdem als Berater des bundesdeutschen Aussenministeriums. (TA)

zurück